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An Alien Lifeform: Rock’n’Internet

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Heute Standard, damals Avantgarde. | Screenshot: davidbowie.com

Heute Standard, damals Avantgarde. | Screenshot: davidbowie.com

Achtung, es wird persönlich. Aber es geht ums Internet. Und deswegen sind wir ja hier, oder?

Einen ganzen Tag lang keinen klaren Gedanken fassen können, weil Tausende von Kilometern entfernt ein Mensch gestorben ist, mit dem ich nie ein Wort gesprochen habe? Kann ich. Die Trauer über den Tod von David Bowie, der mich mein Leben lang mit seiner Musik, seinen Filmen und so viel mehr begleitet hat, verwandelt sich erst ganz langsam in Dankbarkeit. Ihn überhaupt erlebt zu haben. Bei zwei seiner Konzerte dabeigewesen zu sein. Und seine Musik auch heute noch hören zu können.

In all diese Gefühle mischten sich in den vergangenen Tagen Erinnerungen der unterschiedlichsten Art. Und eine davon machte sich plötzlich selbstständig. Sie lief einfach los, schlug die Brücke zu meinem Job und baute sich quasi ganz von alleine ihren Weg in dieses Blog. Denn Bowie hat nicht nur mit seiner vielfältigen Kunst ständig neue Wege eingeschlagen. Er war auch in einem (scheinbar) ganz anderen Bereich mal wieder hellsichtiger, offener und schneller als viele andere: im Internet.

David Bowie als Internet-Pionier

Als am 1. September 1998 BowieNet ans Netz ging, wusste man als Fan sofort, dass man bei etwas ganz Besonderem dabei war. Denn BowieNet war nicht einfach nur eine Textseite mit ein paar Bildern, wie damals üblich. Es war eine Community, ein Begegnungsort, an dem man nicht nur anderen Fans, sondern mit ein bisschen Glück auch Bowie selbst begegnen konnte – immer mal wieder tauchte er unangekündigt im Chat auf und unterhielt sich mit seinen Fans. Und BowieNet war, ganz nebenbei, auch ein vollwertiger Internet Service Provider – neben AOL, CompuServe und Co. Mit eigener E-Mail-Adresse @davidbowie.com.

Dabei war Bowie zu diesem Zeitpunkt schon seit über zehn Jahren aktiv im Netz – seine erste Newsgroup hatte er 1987 aufgemacht, noch bevor Tim Berners-Lee die Grundlagen das WorldWideWeb schuf, wie wir es heute kennen.

Wie mit so vielem anderem auch, experimentierte Bowie mit der neuen Technologie des Internets auf seine ihm eigene, sehr kreative Weise. 1999 nutzte er das Netz, um mit seinen Fans zusammen einen Song zu schreiben. 80.000 Textvorschläge zu einem vorgegebenen Demotrack wurden eingereicht, ausgewählt wurden die Lyrics des 20-jährigen Alex Grant. Das Ergebnis hieß „What’s Really Happening“, ging als erster „Cyber Song“ in die Geschichte ein und landete schließlich auf dem Album „Hours…“ Nachdem die Aufnahme-Sessions in 360°-Ansicht aufgenommen und live im Internet gestreamt wurden.


Und bereits 1996 bot er mit „Telling Lies“ als einer der ersten einen Song im Internet zum Download an, in drei verschiedenen Versionen. Als „echte“ Single wurde der Song erst zwei Monate später veröffentlicht.

Klingt alles nicht so außergewöhnlich? Heute vielleicht nicht, damals aber war es sensationell. Und prophetisch.

Denn Bowie gehörte zu den ersten, die erkannten, welche Kraft das Internet in sich verbarg. Und das nicht nur in technologischer, sondern auch in gesellschaftlicher Hinsicht.

Vom Rock’n’Roll zum Internet

In einem überaus sehenswerten Interview mit Jeremy Paxman machte er 1999 deutlich, als was er das Internet betrachtete: Als eine Art Nachfolger des Rock’n’Roll. Während der sich in den 50er, 60er und auch noch 70er Jahren wunderbar als Rebellions-Plattform eignete, war er Ende des 20. Jahrhunderts zur Industrie geworden. Wer früher Musiker wurde, musste sich gegen gesellschaftliche Widerstände durchsetzen und wurde von den einen als aufmüpfig und umstürzlerisch, von den anderen als avantgardistisch und revolutionär wahrgenommen. Inzwischen war von der Rebellion nicht mehr viel übrig geblieben: Rock’n’Roll war gesellschaftsfähig geworden und hatte damit seine revolutionierende Kraft zu großen Teilen verloren. Ein Ansteuern des „Musik-Business“ ist heute kein Ausbruch mehr, sondern eine Karriere-Chance.

Der Posten der Rebellions-Plattform war damit vakant. Und ging, so Bowies scharfsinnige Beobachtung, an das Internet: „The internet now carries the flag of being subversive and possibly rebellious, and chaotic and nihilistic.“ Subversiv, rebellisch, chaotisch und nihilistisch. Dass man dem Internet diese Adjektive 1999 alle noch nicht so recht zutraute, ist dem Gesicht seines Gesprächspartners Jeremy Paxman im Interview mehr als deutlich anzusehen.

Und auch, dass die Entwicklung 1999 gerade erst am Anfang stand, war Bowie mehr als bewusst:

„I don’t think we’ve even seen the tip of the iceberg. I think the potential of what the internet is going to do to society – both good and bad – is unimaginable. I think we’re actually on the cusp of something exhilarating and terrifying.“

Aufregend, berauschend und gleichzeitig furchteinflößend. Treffender kann man wohl kaum beschreiben, was aus dem Internet geworden ist. Und noch werden wird. Denn auch wenn es inzwischen 17 Jahre her ist, dass Bowie diese weitsichtigen Worte gefunden hat, versteckt sich noch immer viel mehr unter der Oberfläche als das, wir vom Eisberg Internet bislang zu sehen bekommen haben. Was da noch kommt? Man kann es nur erahnen. Wir sollten aber alles daran setzen, dass uns die „außerirdische Lebensform“, die da auf unserem Planeten gelandet ist, nicht überrollt. Dass das Berauschende stärker bleibt als das Furchteinflößende. Und dass die revolutionäre Kraft dem Business nicht gänzlich weichen muss.

Vor allem sollten wir weiter experimentieren mit allem, was da kommt, es für die Zwecke nutzen, die uns wichtig sind. Es mit unseren Träumen, unseren Ideen und unserer Kunst füllen. Und mit jeder Menge Rock’n’Roll.


It’s an alien lifeform. […] It’s going to crash our ideas about what mediums are all about.

KF/msh


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